Fehlerkultur in der Wissenschaft

Auf dem NFDI4Chem Consortium Meeting 3.0 im Oktober in Hannover fand eine Podiumsdiskussion zum Thema Kulturwandel und Fehlerkultur statt.

Damit wird eine wichtige Tatsache angesprochen: Forscher*innen haben Angst, ihre Daten zu veröffentlichen, „weil andere Fehler in ihren Daten oder ihrer Forschung entdecken könnten, was sich wiederum nachteilig auf ihre Karriere auswirken könnte.“ Dies unterstreicht das Fehlen eines systematischen Ansatzes für den Umgang mit Fehlern im akademischen Bereich. Organisationen mit hohem Risiko haben bereits eine Fehlerkultur eingeführt, so dass sie Probleme leicht finden und beheben können, wie Joachim Richert (BASF) sagte: „Die Industrie arbeitet mit Fehlern. Dies ist Teil unseres Qualitätsmanagements.“

Ziel der Podiumsdiskussion war es, in einem Mikrokosmos die Art von Diskussionen zu schaffen, die wir in der breiteren akademischen Community offener geführt sehen wollen. Deshalb war es relevant, dass wichtige Interessengruppen vertreten waren. Die industrielle Sichtweise wurde von Joachim Richert (BASF) vertreten, die akademische von Sonja Herres-Pawlis (RTWH-Aachen), die NFDI von Cord Wiljes, die NFDI4Chem von John Jolliffe, der auch die Diskussion moderierte, die IUPAC von Leah McEwen und die Verlage von Laura Woodward-Heni (Wiley-VCH). Wir hielten es für sehr wichtig, auch eine Perspektive aus psychosozialer Sicht einzunehmen und hatten daher das Glück, den Psychologen Maximilian Frank (LMU) für die Diskussion zu gewinnen.

Die einleitende Hauptfrage an die teilnehmenden Wissenschaftler*innen lautete: Welche Art von Veränderung im Umgang mit Fehlern und wissenschaftlichen Praktiken würden sie sich wünschen?

Eine erste Überlegung von Joachim Richert war, Wissenschaftler*innen zu motivieren, trotz fehlender Fehlerkultur offene Daten zu nutzen: „Wir sollten uns einen Anreiz wie einen Zitationsindex überlegen, zum Beispiel die Wiederverwendung Ihrer Daten.“ Die Diskussion brachte mehrere mögliche Richtungen hervor. Eine davon war, wie man Fehler von vornherein reduzieren kann. In Bezug auf die Daten könnte dies beispielsweise durch eine automatische Qualitätskontrolle der Daten erreicht werden.

In der Diskussion wurde vor allem die Frage gestellt, warum es in der Wissenschaft überhaupt eine schlechte Fehlerkultur gibt. Der Psychologe der Podiumsdiskussion, Maximilian Frank (LMU), sagte: „Das ist auch eine Frage von guter Führung.“ In der Wirtschaft werden Führungsqualitäten gesucht und gefördert, während in der Wissenschaft wenig bis gar kein Führungstraining stattfindet. Darüber hinaus hat die Kultur des „publish or perish“ dazu geführt, dass gute Forschungspraktiken nicht immer eingehalten werden und dass der Druck des „publish or perish“ und eine schlechte Fehlerkultur in akademischen Arbeitsgruppen und in der Wissenschaft insgesamt eindeutig zusammenhängen.

Im Anschluss an die Eröffnungsfragen wurde die Frage gestellt: „Wie können wir als Community besser mit Fehlern umgehen. Z.B. dass retractions nicht mehr als potenzielle Karrierekiller von Nachwuchsforscher*innen gefürchtet werden?“ Laura Woodward-Heni (Wiley-VCH) gab einige sehr wertvolle Einblicke: „Der Zweck einer retraction ist nicht, jemanden zu bestrafen, sondern den wissenschaftliche record zu korrigieren“.. Sie wies darauf hin, dass es wichtig sei, zwischen retractions, bei denen die Autoren ehrliche und ethische Absichten verfolgten, und retractions aufgrund von bewusstem ethischem Fehlverhalten zu unterscheiden. Um die Angst vor retractions zu nehmen, ist eine offenere Diskussion innerhalb der Community über retractions erforderlich. Die meisten retractions sind tatsächlich nur auf ehrbare Fehler zurückzuführen. Wenn mehr Wissenschaftler*innen ihre Erfahrungen mit retractions mitteilen und offen darüber sprechen würden, könnten andere Forscher*innen erkennen, dass dies nicht unbedingt das Ende ihrer Karriere bedeutet.

Im Verlauf der Podiumsdiskussion wurden verschiedene Punkte angesprochen, die hier hervorgehoben werden sollen.

Cord Wiljes (NFDI-GS) wies darauf hin, dass offene Daten letztlich nicht nur eine Bedrohung darstellen, sondern auch eine Chance bieten: „Offene Daten helfen, Fehler zu finden. Und es gibt verschiedene Ebenen von Fehlern. Und es gibt Fehler, die helfen, die Wissenschaft voranzubringen.“

Alle Diskussionsteilnehmer*innen waren sich einig, dass die Gute Wissenschaftliche Praxis (GWP) in den Lehrplänen für Studierende und in den Leitlinien für Postgraduierte einen höheren Stellenwert haben muss. Wenn die GWP als unanfechtbarer Ehrenkodex angesehen würde, gäbe es weniger fragwürdige Forschungspraktiken, die Menschen von der Veröffentlichung ihrer Daten abhalten könnten (da diese dann offensichtlich würden).

Leah McEwen (IUPAC) sagte, dass die positiven Auswirkungen von Daten besser aufgezeigt werden müssen und die künstliche Trennung, die weitgehend zwischen Datenproduzent*innen und -nutzer*innen besteht, aufgehoben werden muss.

Die Podiumsdiskussion wurde mit den folgenden Gedanken abgeschlossen. All dies sind komplexe Probleme, die nicht über Nacht gelöst werden können. Insbesondere der Druck, der sich aus dem Paradigma „Veröffentlichen oder untergehen“ ergibt. Es ist unglaublich wichtig, das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen, um die Menschen dazu zu bringen, darüber zu sprechen, damit die Community offener anerkennt, dass wir ein Problem haben. Die NFDI wird daher kontinuierlich das Bewusstsein für diese Themen schärfen, aber wir laden auch jeden einzelnen von Ihnen ein, das Thema offener mit Gleichgesinnten zu diskutieren. Darüber hinaus wurde innerhalb der NFDI eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema Fehlerkulturen eingerichtet, da es sich hierbei nicht nur um Themen handelt, die auf die Chemie beschränkt sind. Die Arbeitsgruppe will nicht nur das Bewusstsein schärfen und sich an die Community wenden, sondern auch Leitlinien dafür entwickeln, wie akademische Forschungsgruppen eine bessere Fehlerkultur aufbauen können.